Alles, was Emma tun musste, war, die Autotür zu öffnen. Schien kein Problem zu sein, nachdem sie die ganze Nacht durch die Wüste Arizonas gefahren war. Doch wie sollte sie wieder auf ihn zugehen nach nur einem Jahr? Nach dreihundertneunundachtzig Tagen, um genau zu sein. Lange genug für die meisten Leute, um über eine Beziehung hinwegzukommen. Doch der Wolf in ihr wurde nicht mit dem Gedanken fertig, dass er etwas mit einer anderen anfangen könnte. Sie war mit dem Wissen aufgewachsen, dass Wölfe sich fürs Leben banden. Wie das Tier unter ihrer Haut hungerte sie danach, ihn zu sehen.
Emma hob die Hand an den Türgriff und sah ihre Finger zittern. Sie schloss die Augen, um den Verband an ihrem Handgelenk nicht sehen zu müssen.
Rumsitzen und hoffen würde Kyle nicht herzaubern. Sie musste ihn finden. Doch sie konnte die dunklen Gedanken von gestern Nacht nicht abschütteln. Erinnerungen an ihr rasendes Rudel, das sie umkreiste und festhielt, während der Alpha sie biss. Kyle durfte sie nicht so sehen. Sie setzte ein hoffentlich selbstbewusstes Lächeln auf, hob das Kinn und straffte die Schulter. Sie konnte es tun.
Die heiße Augustsonne warf kurze Schatten, als sie auf die Tankstelle zuging. Dabei entging ihr nicht, dass der kleine Ort Stone Ridge nicht viel zu bieten hatte: ein kleiner Lebensmittelladen, ein Diner und ein paar alte Gebäude. Sie nahm an, dass keines davon ausgestattet war, die Hitze zu besiegen.
Schmerz schoss durch ihren Bauch und zwang sie, sich an einen Briefkasten zu lehnen. Das Metall wärmte ihre Seite, doch es war viel zu leicht, es zu ignorieren. Der Biss begann, seine Wirkung zu entfalten – und bald würden die anderen Symptome einsetzen; das Fieber, der Wahnsinn … so weit vorauszudenken wagte sie nicht.
Der Schmerz flaute genug ab, um weiter nach Kyle suchen zu können. Sie sah ihn nirgends außerhalb der Tankstelle. Nicht gerade eine Touristenattraktion. Das einsame Druckluftgerät war umgefallen, und die zwei Zapfsäulen waren schmutzig und verrostet. Vor ein paar Monaten hatte ein Freund erwähnt, dass er Kyle in der Nähe gesehen hatte. Es war trotzdem ein Schuss ins Blaue. Doch auch wenn Stone Ridge klein war, brauchte der Ort dennoch einen Mechaniker – und das war Kyles Berufung.
Die Werkstatttore der Tankstelle waren verschlossen, die quadratischen Fenster schmutzverschmiert. Niemand stand hinter der Kasse im Inneren des Gebäudes. Als eine weitere Welle der Schmerzen ihren Bauch erfasste, blinzelte sie ein paarmal, bevor sie die Tür öffnete. Was, wenn er ihr nicht helfen wollte? Was, wenn sie ihre jüngere Schwester umsonst zurückgelassen hatte? Vielleicht sollte sie kehrt machen und vergessen, dass sie Kyle je gekannt hatte, doch das konnte sie nicht. Megs Leben war in Gefahr. Andere warteten auch, verborgen im Schatten, und beteten, dass sie nicht gebissen werden würden. Jemand musste helfen. Emma konnte sie nicht alle allein retten. Nicht, nachdem sie auch infiziert worden war. Und Kyle war der einzige, dem sie vertrauen konnte, doch das bedeutete, dass sie den ersten Schritt machen und um Hilfe bitten musste – falls sie ihn finden konnte.
Entschlossen betrat sie die Tankstelle. Ihr Blick wanderte zum Essen auf den Regalen. Schokomuffins, Schokoladenriegel, der köstliche Duft von Pizza unter Wärmelampen in der Ecke ließen ihren Magen knurren. Sie hatte lange nichts gegessen, doch das war egal – sie musste nach Kyle suchen.
Dann stieg ihr der Duft von Sandelholz und Leder in die Nase und brachte Erinnerungen an die Leidenschaft zwischen ihnen zurück. Kyles Duft.
Der Duft wurde stärker, als sie durch die Tür in die Werkstatt trat.
Ihr Blick wanderte über zwei Minivans und sie sah auch in dem kleinen Büro nach, doch sie konnte ihn nirgends sehen. Sein Duft verflog gerade genug, dass ihr bewusst wurde, dass er vor wenigen Augenblicken hier gewesen war und sie ihn gerade verpasst haben musste. Verdammt.
Eine Hand berührte ihre Schulter. „Was suchst du hier, Em?“
Kyles tiefe Stimme hallte in ihren Ohren, bevor sie sich zu ihm umdrehte. Als sich ihre Blicke begegneten, schoss eine Welle der Lust, gefolgt von brennendem Hass durch sie hindurch. Ganz gleich wie sehr sie sich nach einem Jahr danach sehnte, ihn zu sehen, das Gift des Bisses des Alpha brachte sie dem Wahnsinn näher.
Kyles fein geschnittene Züge waren angespannt, doch er sagte nichts. Er sah so berauschend aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte, doch seine dunkelbraunen Haare waren ein bisschen länger, und er trug einen Stoppelbart unter seinem skeptischen Blick. Sein aufgeknöpftes Hemd gab den Blick auf seinen wohlgeformten Torso frei. Als er einen Schritt zurücktrat, um eine gesunde Distanz zwischen ihnen zu wahren, bot das ärmellose Hemd einen Blick auf seine muskulösen Arme.
„Ich weiß, dass das eine schlechte Zeit ist, aber ich muss mit dir reden, Kyle.“ Sie trat auf ihn zu, doch er regte sich nicht. „Ich stecke in Schwierigkeiten.“
Sein Adamsapfel zuckte, doch dann ließ er sie stehen und wandte sich der Arbeit an einem der Minivans zu.
Als sie ihm nachblickte, dachte sie einen Moment lang, sie hätte es anders angehen lassen sollen. Sie hätte erwarten müssen, dass er sie abweisen würde, nachdem sie sich entschlossen hatte, in Hadley zu bleiben, als er gezwungen worden war, den Ort zu verlassen. Sie hatte die Chance gehabt, mit ihm zu gehen, doch sie hatte es nicht getan.
„Schau, ich–“
„Bitte geh“, sagte er. „Welchen Ärger du auch immer am Hals hast, ich will nichts davon hören.“
Sie wollte, dass er sie ansah. Ihr in die Augen blickte, wenn er sie wegschickte. „Es geht nicht nur um mich. Unser Rudel ist in furchtbaren Schwierigkeiten. Ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll.“
„Sprich mit dem Alpha. Du hast schließlich ihn mir vorgezogen.“
„Es war nie so zwischen Liam und mir und das weißt du.“
Sein Blick wanderte zu ihr, bevor er sich wieder dem Werkzeugwagen zuwandte. „Wie ich es sehe, hat dein Rudelführer dich überzeugt, mich zu finden, damit er dich mir unter die Nase reiben kann. Es wäre vielleicht effektiver gewesen, wenn er nicht ein ganzes Jahr gewartet hätte, denn zwischenzeitlich ist mir das alles scheißegal.“
Emma biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu fluchen. Kyles Ärger ging in Wellen von ihm aus und donnerte gegen ihren Schädel. Sie war aus gutem Grund hergekommen. Wegen seiner Verbitterung wütend zu werden würde Meg und den anderen, die sich vor Liam versteckten, auch nicht helfen.
Sie riss den Verband von ihrem Handgelenk und gab den Blick auf einen Biss frei. Die Haut um die Wunde herum war verfärbt. Dunkelviolette Adern und leuchtendrote Flecken von der sich schnell ausbreitenden Infektion. Ohne den Verband brannte die Bissstelle wie Feuer. Ihr Körper hatte bisher durchgehalten, doch wie viel Zeit blieb ihr noch? Genug, um Meg noch einmal wiederzusehen?
Kyle eilte zu ihr, und sie keuchte, als er ihr Handgelenk packte, um die Wunde zu inspizieren.
„Was zum Henker ist mit dir passiert?“ Seine Fingerspitzen strichen über ihre gereizte Haut, und sie zuckte zusammen. Wo er sie berührte, wurde das Brennen so intensiv, dass sie am liebsten geschrien hätte, und so sehr sie auch wollte, dass er sie berührte, es grenzte an Folter. Als er sie wieder losließ, atmete sie tief durch.
„Liam … er hat mich gebissen“, presste sie heraus.
Sie wollte, dass Kyle sie erneut berührte, ganz gleich wie sehr es wehtat. Doch er blieb nur vor ihr stehen, so sehr sie sich nach der langen Fahrt auch nach einer Stütze sehnte. Sein offenes Hemd gab den Blick frei auf seinen Waschbrettbauch und die Spur brauner Locken, die zu einem Teil von ihm führte, den sie nie vergessen würde. Er hatte nie viel tun müssen, um sie zu erregen. Doch ihr körperliches Verlangen nach ihm war jetzt nicht wichtig. Sie brauchte ihn aus anderen Gründen.
Er musterte sie aus schwarzen Augen. Würde er ihre Verzweiflung sehen und ihr helfen?
„Etwas ist vor eine Woche mit Liam passiert. Angehörige des Rudels sind verschwunden, und dann wurden überall menschliche Leichen gefunden. Das Rudel hat sie zerfetzt.“ Sie holte ein paarmal tief Luft, bevor sie fortfuhr. „Dann kam er zu meinem Haus. Er sah nicht gut aus. Er hat krank gerochen, und sein Gesicht war faltig, als wäre er Jahre gealtert. Die verschwundenen Mitglieder des Rudels waren auch da und folgten seinen Befehlen bedingungslos. Gnadenlos. Tollwütig, doch wie in Trance. Er sagte, er würde mich zwingen, mich ihm anzuschließen und gehorsam an seiner Seite zu stehen.“
„Das klingt verrückt.“
„Oh ja. Es ist etwas, wovon ich noch nie gehört habe. Keine Ahnung, ob es ein Heilmittel dagegen gibt oder ob man es bekämpfen kann.“
Hitze strahlte von Kyle aus, als er sich mit der Hand über das Gesicht rieb. „Wo ist Liam jetzt?“
„Nachdem er mich gebissen hat, hat er darauf gewartet, dass ich seiner Kontrolle verfalle. Doch das ist nicht passiert, und ich bin weggelaufen. Es ist mir gelungen, einen der Ältesten des Rudels anzurufen. Ich dachte, ich wäre unentdeckt entkommen, doch er sagte, dass Liam auf der Jagd nach mir ist.“
Kyles Miene wurde finster, als er auf sie zu kam. Er war ihr so nah, dass sie die Muskeln in seinem Gesicht zucken sehen konnte. „Du hast ihn hierher geführt?“
Sie bewegte ihre Lippen, doch nichts kam heraus.
„Dir ist bewusst, dass du Liam aus unserem Gebiet – einer einsamen Gegend – hinaus in eines voller unschuldiger Menschen geführt hast?“
Jede Hoffnung, die Emma gehabt hatte, schwand bei seinen Worten. Der Schmerz der Infektion in ihrem Inneren war nichts im Vergleich zu dem, den seine Antwort brachte. Oh Gott. Was hatte sie getan? Hatte sie jeden, der Liams Pfad auf dem Weg hierher kreuzte, zum Tode verurteilt?
Sie suchte nach den richtigen Worten. „Wenn du mit mir zurückkommst, können wir ihn aufhalten, bevor er herkommt.“
„Em, du hättest nicht kommen sollen. Du hättest Meg nehmen und mit ihr von da verschwinden sollen. Ich bin nicht mehr der Löser deiner Probleme.“
Sie biss sich auf die Lippe. Sie musste das Richtige sagen. „Es ist nicht meine Schuld, dass Liam dich hintergangen hat. Und es ist nicht die Schuld all der Unschuldigen, die er getötet hat.“
Er schnaubte. „Nachdem alle im Rudel sich von mir abgewandt haben, soll ich jetzt mein Leben für sie riskieren?“
Nicht nur für sie, auch für mich.
Kyle kehrte an den Werkzeugwagen zurück. Er nahm einen Schraubenschlüssel und wandte sich wieder dem Minivan zu. Emma war geschockt. Er schien fertig mit ihr zu sein. All die Jahre, die sie ihn gekannt hatte, war er nie vor einem Kampf zurückgeschreckt. Bis heute.
Emma hielt die Tränen zurück, bis sie zu ihrem Wagen kam. Sie wollte nicht, dass er sie weinen sah. Nicht einmal, nachdem sie ihn um Hilfe angefleht hatte. Sie grub in ihrer Jeans nach den Schlüsseln. Als sie ihren Schlüsselbund nicht finden konnte, explodierte all die Wut, die unter der Oberfläche gesimmert hatte. Mit einer ganzen Tirade von Flüchen trat sie gegen den Reifen.
„Bastard!“
Wütend fand sie schließlich die Schlüssel und kehrte in ihr Auto zurück. Ihre Atemzüge waren tief und kontrolliert, genug, um sie zu beruhigen. Sie musste sich zusammenreißen, um die lange Fahrt, die vor ihr lag, zu überstehen. Sie musste stark sein für Meg, selbst wenn sie sich Liam allein stellen musste. Wenn Kyle ihr nicht helfen wollte, dann würde sie sich selbst etwas einfallen lassen. Doch sie wusste nicht, wo sie anfangen oder an wen sie sich wenden konnte. Alle im Ort, die Liam und der Infektion nicht zum Opfer gefallen waren, hatten sich in ihren Häusern verbarrikadiert. Sie würden ihr nie die Türen öffnen.
Ein Schatten huschte in einer Sekunde am Rand von Emmas Sichtfeld hinter einer Gruppe von Kakteen hervor und verschwand hinter der Tankstelle.
Sie duckte sich und spähte aus dem Fenster. Kein Wind. Keine Bewegungen in der Ferne. Außer dem Stakkato ihres Pulses hörte sie nichts. Hatte sie ihren Vorsprung bereits eingebüßt? Hatte einer von Liams Männern sie gefunden? Was, wenn es Liam selbst war? Er würde sie umbringen.
Sie steckte den Schlüssel in die Zündung. Als sie aufblickte, stand Kyle mit loderndem Blick vor dem Auto. „Komm, Emma. Wir haben zu tun.“